Eine Studie aus Manchester untersucht die Auswirkung von Inhibition auf die Halsmuskeln in Bezug auf Bewegungsmuster und Energieaufwand. Eine Zusammenfassung von Ariane Hesse.
Die Alexander-Technik ermöglicht, alte eingespielte Bewegungsmuster, die zu Verspannungen oder unnötiger Anstrengung führen, bewusst zu verändern.
Praktisch bedeutet das: zunächst Innezuhalten und so das alte Bewegungsmuster bereits in der Vorbereitungsphase durch das Zentralnervensystem zu unterbrechen; dann fast gleichzeitig durch gedachte spezielle Anweisungen an den eigenen Körper die gesamte Koordination zwischen Kopf, Hals und Rumpf so zu verändern, dass neue Bewegungsmöglichkeiten möglich und umgesetzt werden. Ihr Gründer Frederic Matthias Alexander hat diese Arbeit durch jahrelanges Beobachten und Selbstversuche entwickelt. Ihm und den meisten Anwender*innen der AT reichte die persönliche Erfahrung, dass dies möglich ist. Heutzutage ist es zusätzlich wichtig, die Funktionsweise, die dieser erfolgreichen Methode zu Grunde liegen zu verstehen.
Nun haben Wissenschaftler an der Manchester Metropolitan University einige physiologische Fragestellungen überprüft, die für eine wissenschaftliche Erklärung bzw. Bestätigung der F. M. Alexander-Technik grundlegend sein könnten.
Die Studie von Prof. Ian Loram, Brian Bate, Pete Harding, Ryan Cunningham und Alison Moram wurde unter folgendem Titel: Proactive Selective Inhibition Targeted at the Neck Muscles: This Proximal Constraint Facilitates Learning and Regulates Global Control in der Zeitschrift IEEE Transactions on Neural Systems and Rehabilitation Engineering. Vol 25. No. 4, April 2017 , S. 357-369 veröffentlicht und kann unter folgendem Link im Internet gefunden werden:
https://ieeexplore.ieee.org/document/7792725
Für alle, die schon bei dem komplexen Titel zurück schrecken, fasse ich die wichtigsten Inhalte hier zusammen:
Anstoß zu der Studie gab die Erfahrung, dass es schwierig ist, ein einmal eingeübtes Bewegungsmuster zu verändern. Gerade bei Berufsmusikern wird das zum Problem, wenn die erlernten Muster im
Lauf der Zeit zu Einschränkungen und Schmerzen führen. Das Zentralnervensystem verstärkt eher gewohnte Steuerungsbahnen, wie lässt sich dieser Mechanismus überwinden? Eine weitere Frage war, wie
sich einzelne Muskelgruppen im komplizierten Netzwerk aller Muskeln mit ihrer Ansteuerung durch die Nerven verhalten.
Es gibt eine segmentale Anordnung, da jedem Nervenpaar, das aus dem Rückenmark austritt, bestimmte Muskeln zugeordnet sind. Außerdem gibt es Bewegungsketten, die nahe der Körperachse beginnen (
im Fachchinesisch proximale Muskeln genannt) und eher in der Körperperipherie (im Fachchinesisch distal) enden, z.B. am Arm und an der Hand oder am Fuß. DieseAnordnungen vereinfachen eventuell
das motorische Lernen. Eine Einschränkung in den proximalen Muskeln kann die Bewegungsplanung im Nervensystem für die Ausführung am distalen Ende verändern.
Für die Versuche entschieden sich die Forscher für die Halsmuskeln als proximale, nah an der Körperachse gelegene Muskelgruppe. Um Bewegungen wie Schauen, Fortbewegung, nach etwas Greifen oder etwas Festhalten aus zu führen brauche ich eine Eigenwahrnehmung vom Körper im Raum und mein Körpergleichgewicht. Dafür muss das Verhältnis vom Kopf zum Rumpf gut ausgesteuert sein. Es ist deshalb möglich, dass die Muskeln des Halses einen Einfluss darauf nehmen können, wie das Zentralnervensystem die Bewegung z.B. der Hände im Voraus plant. Wenn es also gelingt, die Muskelaktivitäten im proximalen Bereich willentlich zu verringern, so dass für die jeweilige Aufgabe unnötige Bewegungen weg fallen, könnte die betreffende Tätigkeit leichter auszuführen sein.
Drei Thesen sollten mit wissenschaftlichen Methoden überprüft werden:
Was sich hinter diesen Aussagen genauer verbirgt, wird durch die Versuchsanordnung deutlich.
Als Versuchspersonen wurden Geiger bzw. Geigerinnen ausgesucht, da es sich hierbei wirklich um eine Tätigkeit handelt, die ein besonders gutes Maß an Koordination aller Muskeln verlangt. Menschen, die schon lange das Instrument spielen, besonders auch beruflich, haben sich ihre Bewegungsmuster für das Geigespielen in jahrelangem Übern so angeeignet, dass vieles automatisch abläuft. Andererseits gibt es gerade bei Berufsmusikern im Lauf der Zeit öfter gesundheitliche Probleme, die das Spielen einschränken und schmerzhaft sein können. Gerade für sie ist es nötig, die alten Muster zu überprüfen und eventuell zu ändern. Da das Zentralnervensystem die altbekannten Ansteuerungswege zur ausübenden Muskulatur bevorzugt und damit die Flexibilität begrenzt, Neues aus zu probieren, ist dies eine schwierige Aufgabe.
Die Teilnehmer*innen der Versuchsreihe bekamen nun die Möglichkeit, selbst ihr Verhalten zu ändern. Dazu wurde das schon lange bekannte Prinzip des Myofeedback genutzt. Das bedeutete in diesem Fall, dass ein kleines Ultraschallgerät auf einige wichtige Halsmuskeln im Nackenbereich geklebt wurde. Dies sandte Bilder von der Muskelaktivität auf einen Bildschirm. Nun konnten die Versuchspersonen selbst prüfen, mit welchen Vorstellungen, Assoziationen oder Gedanken, sie die Aktivität dieser Muskeln beeinflussen konnten. In den ersten Versuchsreihen bekamen sie die Möglichkeit, sich zunächst mit dieser Situation vertraut zu machen.
Anschließend wurden verschiedene Aufgaben gestellt wie z.B. die Geige in die Spielposition zu heben, eine Etüde und ein selbst ausgewähltes Stück zu spielen. Währenddessen wurde mit vielen Messverfahren die Muskelaktivität am ganzen Körper beobachtet und die Bewegungsmuster des ganzen Körpers wurden dreidimensional aufgezeichnet. Eine Waage maß den Druck des Kinns auf der Kinnauflage der Geige. Änderungen des Hautwiderstands wurden registriert, beides Parameter, die Rückschlüsse auf den erforderlichen Energieaufwand zulassen.
Die Versuchsreihen waren so aufgebaut, dass es möglich war, Störfaktoren wie der Umgang mit dem Ultraschallgerät und dem dazu gehörigen Monitor aus den übrigen Bewegungen heraus zu rechnen.
In der letzten Versuchsreihe bekamen die Probanden die Aufgabe gleichzeitig die Aktivität der Halsmuskeln so weit herunter zu regeln, dass alle überflüssigen Bewegungen weggelassen wurden, und Geige zu spielen.
Das mentale Herunterregeln der Halsmuskelaktivität ist mit Inhibition gemeint.
Muskeln können nicht nur angeregt sondern auch gebremst werden. Die Versuche wiesen nach, dass dies mit der beschriebenen Technik möglich ist und dabei zusätzlich eine komplexe Tätigkeit ausgeübt werden kann (H1).
Die Beobachtungen der gesamten Körperkoordination zeigten eine Veränderung bei Schultern, Armen und Händen bis in das Becken und die Beine hinein. Dies beweist die zweite Hypothese. Unter anderem waren die Kopfbewegungen in allen Richtungen geringer, die Schultern wurden weniger nach vorn geschoben und das Kinn lag entspannter auf der Kinnauflage. Die Teilnehmer*innen der Studie hatten keine Anweisungen bekommen, dass oder wie sie ihr Geigespielen verändern sollten. Alle diese beobachteten neuen Bewegungsmuster folgten unbeabsichtigt durch das Loslassen der Halsmuskeln.
Die Messungen, die den Energieaufwand für die ausgeübten Bewegungen darstellten, zeigten ebenfalls eine Verringerung nicht nur am Oberkörper und bei den Armen sondern auch bei den Beinen und den Muskeln, die für die Körperbalance zuständig sind.
Also konnten alle drei Thesen bewiesen werden.
Als mögliche Erklärungen für die hier untersuchten Auswirkungen der Inhibition der Halsmuskeln auf die Koordination von Bewegungen gab es einerseits Überlegungen, dass im Zentralnervensystem durch die wiederholten Versuche, die Halsmuskeln bewusst an zu steuern, sich neue Wege für die Nervenverschaltung öffnen.
Andererseits diskutierten die Autoren, ob eine Veränderung in einem zentral gelegenen Muskelbereich wie dem Hals eine Umstellung in der gesamten daran hängenden Bewegungskette zur Folge hat. Diese Veränderung begönne dann schon in der Bewegungsplanung im Zentralnervensystem, ist also nicht rein mechanisch zu verstehen.
Da in der gesamten Versuchsanordnung keine Alexander-Technik eingesetzt wurde, bedeutet es noch nicht, dass sie bewiesen wurde. Aber wichtige physiologische Grundvoraussetzungen für die Alexander-Technik wurden das erste Mal in dieser Studie überprüft. Neben der Wiederholung der Versuche durch Dritte, um die Ergebnisse zu bestätigen, ist auch die Frage offen, ob das Innehalten in anderen Muskelgruppen (z.B. am Becken oder in den Füßen) zu ähnlichen oder anderen Ergebnissen führt.
Für die vielen Menschen, die von der Anwendung der F. M. Alexander-Technik profitieren, ist diese Studie ein wichtiger Schritt, der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung ihrer Wirkweise näher zu kommen.
Copyright bei der Autorin Ariane Hesse.